Freunde unterwegs
Eine ungewohnte Nähe, wenn man stundenlang nebeneinander sitzt. Wir sind ja keine Lkw-Fahrer, sondern Freunde, die nun auf einmal viel Zeit haben, sich auf der Fahrt ihre persönlichen Geschichten auszutauschen. Mit jedem gefahrenen Kilometer rückt der Büroalltag weiter in die Ferne. Es ist aber kein Roadtrip, es ist eine Hilfsfahrt: auf der Pritsche hinter uns sind viele Kartons mit Medikamenten wie Paracetamol oder Ibuprofen, Tourniquets (Stauschläuche oder Aderpressen, um die Blutung zu stoppen), Druckverbandsmaterialien, ausrangierte Krankenbetten, Krücken, Winterausrüstung mit 30 Schlafsäcken, Isomatten, 60 Paar Sicherheitsschuhe, warme Kleidung, Regenponchos, Notfallsysteme mit Wasserfiltern, Taschenlampen und Powerbanks, aber auch Windeln für Kinder; Warenwert ca. 35 - 40.000 Euro. Das meiste gekauft von Spendengeldern der Aktion Ukraine Direkthilfe: die Medikamente von Ärzten über den medizinischen Großhandel, der Rest sind oft Sachspenden aus dem privaten Netzwerk.
Wir fahren über Heilbronn nach Dresden bis wir gegen Mittag die Neiße und die deutsch-polnische Grenze überqueren: Links und rechts der Autobahn sind unzählige Wildzäune, kilometerweite grüne Wiesen mit gelben Rapsfeldern. An so bekannten Städten wie Breslau, Kattowitz und Krakau vorbei: wir streifen die mit uns für immer verbundene Geschichte mit traurigen Gedanken. Und heute ist wieder Krieg. Das ist der tragische Grund unserer Reise und Westernhagen singt aus dem Lautsprecher: „Freiheit, Freiheit ist das einzige, was zählt!“
Es wird bereits wieder dunkel und wir überholen langsam fahrende Armeefahrzeuge, die im Konvoi ebenso nach Osten fahren: man sieht nicht, was sie geladen haben, aber wir vermuten von den Ukrainern erbetene Waffen. Auf der rechten Seite geht es zu einem großen Flughafen, Rzeszów, mit vielen Militärflugzeugen, davor viele angeflogenen, ausgeladene Paletten. Am frühen Abend erreichen wir unser 2**-Hotel mit Ostblock-Charme in unmittelbarer Grenznähe: ein großer, kitschiger Ballsaal, in dem sicher an Wochenenden oft Hochzeiten gefeiert werden. Wir lernen einen Franzosen, Francois, kennen, der mit einem alten, gebraucht gekauften Krankenwagen krebskranke Ukrainer aus dem damals noch umkämpften Charkiw nach Frankreich fährt. Unser Lkw steht vor dem Hotel, unbewacht: hoffentlich stiehlt uns keiner die Ware…
Am Samstag Morgen geht es direkt an die polnisch-ukrainische Grenze: ein Schock! 10 Km Auto- und Lkw-Schlange! Wir ziehen mutig vorbei, weil wir keinesfalls uns einreihen und warten können – bis die polnische Polizei uns stoppt und uns anweist zurückzufahren. Wir verweisen auf unsere dreisprachigen Hilfsschilder: Humanitäre Hilfe, pomoc humanitarna auf Polnisch, гуманітарна допомога auf Ukrainisch. Der Zöllner will nur unseren Namen wissen und winkt uns durch, Glück gehabt. Dennoch ist eine lange Warteschlange vor der Grenze mit 3 Linien: links kommen unzählige Flüchtlinge aus der Ukraine, Frauen und Kinder, Alte. In der Mitte stehen die Einreisenden – neben uns auch viele andere europäischen Helfer, nicht nur die großen Hilfsorganisationen, sondern auch viele kleinere wie wir. Ganz rechts die Ukrainer, die wieder zurückwollen, teilweise mit nagelneuen Autos.
Die rot-weißen Grenzbäume gehen auf und zu, alles sehr zäh. Nach 2 Stunden passieren wir die Grenze, direkt dahinter im sogenannten „Niemandsland“ warten bereits Stepan, der Bruder von Switlana Dietz und seine Kameraden des Versorgungstrupps, die die Ukraine nicht verlassen dürfen. Davor aber müssen wir alle Zollformalitäten bewältigen: von Digitalisierung keine Spur! Alles mit Listen, Kopien, Stempeln und Laufzetteln. An den Wänden verblichene, zerrissene Karten der Ukraine – natürlich noch in den alten Grenzen vor 2014 mit der Krim und den Ostgebieten, die nun Russland mit seiner vermeintlichen „Spezialoperation“ kriegerisch rausschneiden möchte. Danach helfen wir, die vielen Pakete in deren Sprinter umzuladen. Die Gespräche sind kurz: die Ukrainer wollen schnell die Ware nach Lemberg bringen. Ein schnelles Foto, ein knappes, aber umso herzlicheres Danke, dann geht es für uns wieder zurück, aber die polnischen Grenzer lassen uns erstmal 3 Stunden warten und filzen uns wie kriminelle Schmuggler. Da helfen auch unsere Schilder nichts.
Wir empfinden Erleichterung auf der Rückreise, aber auch Beklommenheit: während wir wieder zu unseren Familien zurückdürfen, müssen die anderen auch zurück, aber um ihr Land zu verteidigen; Stepan hat schon den Marschbefehl zugestellt bekommen. Wir übernachten im schönen Breslau mit seinen bunten Häuserfassaden und genießen das Feierabendbier, die Last fällt ab.
Bis wir wieder Sonntag abends gut behalten zu Hause ankommen, erkennt man: Die Ukraine liegt Deutschland so nah! Und man fragt sich: Wann und wie kann der Krieg enden? Was hilft es denn, was wir hier getan haben? Dankenswerter Weise schicken die Ukrainer nach Erhalt der Hilfsgüter Fotos. Wenn man dann sieht, dass den Menschen damit geholfen ist, dann wissen wir auch, dass es so wie wir es machen, richtig ist.